​ Ein Stück Tessin im Garten

Die ersten Septembertage bescheren uns, was diesen Sommer so rar war: Sonne, Wärme. Ich sitze im Garten, geniesse den Feierabend. Die Tage sind merklich kürzer geworden, fürwahr. Es ist erst sieben, doch die Sonne verabschiedet sich schon. Nachbars Enten watscheln schnatternd zu ihrem Stall. Ich schaue auf in den wolkenlosen Himmel. Wo sind die Schwalben? Es ist keine mehr zu sehen, weg sind sie, haben ihren Flug in den Süden angetreten, in die Wärme. Wann sind sie denn gegangen?

Mein Blick fällt zurück auf den Boden, auf die Steinplatten, die jetzt, da sie trocken sind, ganz hell scheinen. Glimmer glänzt da und dort. Sie haben sicher mitbekommen, wann die Schwalben gegangen sind. Was würden sie mir sonst noch erzählen, wenn sie reden könnten? Würden sie mir etwas aus ihrer jahrtausendealten Geschichte berichten? Dass sie sich freuen, in meinem Garten zu sein? Oder dass sie es vorgezogen hätten, Teil eines renommierten Gebäudes zu sein? Oder würden sie gar sagen, dass sie lieber dort geblieben wären, wo sie herkommen? Im Maggiatal, einem Tal des Tessins, das ich nur aus begeisterten Erzählungen anderer kenne? Die Steinplatten bleiben stumm. Ich jedenfalls freue mich, dass sie in meinem Garten sind, die Granitplatten, Gneis eigentlich, das älteste Gestein unserer Erde. Verlegt vom Gartenbauer, eingefasst mit Kieselsteinen, da und dort ein paar Pflastersteine dazwischen – ein Bijou, das noch meine Füsse wärmt, während ein kühler Abendwind meine Wangen streift.

Zugegeben, der Granit aus dem Maggiatal hatte seinen Preis. Derjenige aus China wäre viel günstiger gewesen. Doch mal abgesehen von der Oekobilanz in Sachen Transport – wie könnte ich den Sitzplatz geniessen, gar Feste feiern auf einem Boden, an dem der Schweiss und vielleicht gar das Blut eines Regimes klebt, das Menschenrechte ignoriert?

Der Granit aus dem Maggiatal hat seinen Preis. Er ist ihn Wert, in jeder Beziehung.

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