Libellen

Räuberische Flugkünstler

Ganz ruhig hängt die Libelle an der Königskerze neben dem kleinen Wasserbecken. Nur ihre Flügel, durchsichtig wie Glas, zittern leicht im ersten Sonnenlicht. Ihre Vorderbeine krallen sich um ein Insekt. Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde sie es aussaugen. Doch das, was unter ihren Füssen liegt, war ihr Kleid. Letzte Nacht hat sie es abgestreift. Nun wartet sie darauf, dass die Sonne ihre Flügel härtet. Denn erst dann kann sie fliegen. Ein banger Moment für das frisch geschlüpfte Tier, so wehrlos seinen Feinden ausgesetzt. Doch alles geht gut, eine halbe Stunde später fliegt die Libelle davon.

Libellen, so lese ich in der Fachliteratur, sind räuberische Wesen. Und das von frühester Kindheit an. Schon als Larven jagen und fressen sie alles, was ihnen vor ihr Fangwerkzeug kommt. Dabei machen sie auch vor Artgenossen nicht halt. Ihre Kindheit verbringen sie vorwiegend in stehenden oder nur schwach fliessenden Gewässern. Dabei wechseln sie bis zu zehnmal ihr Gewand. Mindestens drei Monate, normalerweise ein bis zwei Jahre und manchmal sogar noch länger dauert es, bis die Insekten erwachsen sind. Ihr Leben in der Luft hingegen ist kurz, mehr als sechs Wochen ist keiner vergönnt. Gerade genug Zeit, für Nachwuchs zu sorgen.

Libellen sind wahre Flugkünstler. Sie sind mit bis zu 50 Stundenkilometer unterwegs, können abrupt die Richtung ändern und in der Luft stehenbleiben. Möglich macht dies die Fähigkeit, das linke und das rechte Flügelpaar unabhängig voneinander zu bewegen. Auch erwachsene Libellen bevorzugen Moore, Bach- und Auenlandschaften als Zuhause, stossen aber auf ihren Jagdflügen bis in unsere Gärten vor.

Weltweit gibt es etwa 6000 Arten. In Europa leben gut 80, in der Schweiz noch ein paar weniger. Davon ist bei uns etwa die Hälfte vom Aussterben bedroht oder gefährdet. Wie allen Insekten macht den Libellen der schwindende Lebensraum zu schaffen. Libellen brauchen Feuchtgebiete, davon gibt es immer weniger. Renaturierte Bäche lindern die Not etwas. Libellen sind zudem sehr anpassungsfähig: Ganz offensichtlich genügt schon ein kleines bepflanztes Wasserloch im Garten, um zu überleben.

Einst sollen die Menschen geglaubt haben, die Seelen der Verstorbenen würden sich in Libellen verwandeln, die dann in den Himmel flögen. Die Kelten sahen in den Libellen fliegende Drachen, die Feen transportierten. Im asiatischen Raum stehen sie für Wohlstand und Glück. Und als Krafttier bringen sie Leichtigkeit und Heiterkeit ins Leben.

Wenn ich eine Libelle durch meinen Garten kurven sehe, glaube ich die Leichtigkeit des Seins zu spüren. Gestern hat sich eine ins Haus verirrt. Ihr Kampf gegen die Fensterscheibe war alles andere als leicht und locker. Ihr langes Hinterteil über den Kopf geklappt, attackierte sie das Glas so heftig, dass es richtig knallte. Doch als ich ihr das Fenster öffnete, flog sie davon – fröhlich und vergnügt.