Linde

Ein Ort zum Verweilen

«Am Brunnen vor dem Tore

Da steht ein Lindenbaum

Ich träumt’ in seinem Schatten

So manchen süssen Traum.»

In der Schule sangen wir dieses Volkslied aus dem 19. Jahrhundert oft. Linden standen damals überall, im Dorf, auf den Feldern, entlang von Strassen, einige sogar im Wald. Am besten gefielen mir die in Nachbars Garten. Sie waren so mächtig, dass ich dachte, sie würden den Himmel berühren. Und mich fragte, ob das Weihnachtskind seinen Weg auf die Erde über diese Bäume fand.

Weltweit sind etwa 40 Arten Lindenbäume bekannt. Sie gedeihen in gemässigten und subtropischen Regionen. Bei uns sind natürlicherweise die Sommer- und die Winterlinde verbreitet. Die Sommerlinde kann bis zu 40 Meter hoch werden, ihre Schwester etwa dreissig. Bei guten Bedingungen werden sie bis zu tausend Jahre alt. In Städten allerdings fühlen sich diese beiden Arten heute nicht mehr wohl. Hitze, Abgase und Staub setzen ihnen zu. Deshalb greift man bei der Pflanzung in Pärken und Alleen vermehrt auf robustere Arten wie die Silberlinde mit ihren hellen Blattunterseiten zurück.

Die Blüten des Lindenbaums künden den Hochsommer an. Mit ihrem unverkennbaren süsslichen Duft locken sie viele Insekten an, insbesondere Bienen und Hummeln. Lindenblütenhonig bringt den Duft des Sommers auch im Winter auf den Tisch. Lindenblütentee ist ein klassisches Hausmittel bei Husten und Erkältungen. Lindenblütentinktur hilft bei Verletzungen der Haut und soll Tränensäcke unter den Augen unsichtbar machen.

Lindenbäume begleiten den Menschen seit je her. Die Germanen ehrten sie als heiligen Baum. Und auch später wurden bei Kapellen und Kirchen gerne Linden gepflanzt. In Dörfern standen die Bäume auf zentralen Plätzen und neben den Brunnen. In ihrem Schatten erholten sich Mensch und Tier. Hier traf man sich zum romantischen Stelldichein, feierte Feste, tratschte, hielt Versammlungen ab und manchmal auch Gericht.

Da, wo ich heute wohne, stehen die Linden auch bei Nachbars, vis-à-vis ein vom Alter schon etwas gezeichnetes Exemplar, nebenan ein hoher, lichter Baum. In seinem Schatten treffen sich im Sommer die Menschen zu Kaffee und Kuchen. Man diskutiert, schaut den Mehlschwalben zu.

Der Mensch und die Linde – sie gehören zusammen. Auch heute noch.

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