Wahrhaft majestätisch

Königskerzen


Der Spalt zwischen Teerbelag und Pflastersteinen ist von blossem Auge kaum zu sehen. Für die Königskerze ist er breit genug. Schon letztes Jahr zwängte sie sich durch und breitete ein paar Blätter über den Asphalt aus. Meine Wassergaben schienen umsonst, die Blätter verdorrten bald. Doch diesen Frühling meldete sich die Pflanze zurück. Zuerst kamen wieder ein paar Blätter, viel kräftiger als im Vorjahr. Und jetzt wiegen sich zwei Stängel mit den leuchtend gelben Blüten im Wind. Zur Freude der Anwohner und vieler Insekten.

Königskerzen gehören zur Familie der Braunwurzgewächse und sind in Eurasien, aber auch im Mittelmeerraum, zuhause. Etwa 300 Arten sind bekannt. Sie lieben sonnige, trockene Standorte. Ihre haarig-wolligen Blätter, deretwegen sie auch Wollblumen genannt werden, schützen sie vor dem Austrocknen. Die Blätter am Stängel werden nach oben hin kleiner und sind so angeordnet, dass sie Niederschlag in die Wurzel abfliessen lassen.

In der Regel blühen Königskerzen nur einmal, von Mai bis August. Mit der Samenreife sterben sie ab, säen sich aber selbst aus. Die Samen keimen schnell und bilden noch im selben Jahr eine Blattrosette. Im nächsten Jahr, manchmal auch erst im übernächsten, kommen sie zum Blühen. Verbascum, so der wissenschaftliche Name, macht es wie die Akelei. Sie sucht sich ihren Standort selber aus und kann dabei durch den ganzen Garten wandern. Stimmen die Standortbedingungen, kann sie aber auch sehr langlebig sein und mehrere Jahre hintereinander blühen.

Die Blüten der Königskerze sind ein bekanntes Heilmittel. Ihre Inhaltsstoffe wirken schleimlösend und auswurfsfördernd, sie helfen bei Husten, Bronchitis und Asthma. Sie unterstützen die Wundheilung und lindern Juckreiz.

Nicht jede Königskerze wird zwei oder gar drei Meter hoch. Eine majestätische Erscheinung ist aber jede, auch im Winter. Eine Hoheit, die ihr Reich mit anderen teilt. Sie gewährt Bienen und Schmetterlingen Besuchsrecht, Käfern, Ameisen und Spinnen auch Unterkunft.

Einst sollen Königskerzen als Wetterfee gedient haben. Es ist ganz einfach: Zeigen die Blütenspitzen nach Osten, wird es schön. Richten sie sich nach Westen, wird es schlecht. Viele Blüten an Maria Himmelfahrt, also am 15. August, künden von viel Schnee, wenig Blüten von wenig Schnee. Und auch der Zeitpunkt des Schneiens lässt sich ablesen. Sitzen die Blüten im unteren Teil des Stängels, kommt der Schnee im Spätherbst, der mittlere Teil markiert die Wintersonnenwende, ganz oben ist Ostern.

Wir werden sehen, was die Königskerze prophezeit. Und ob ihre Voraussagen stimmen. Wenn nicht, versuchen wir es nächstes Jahr nochmals. Denn auch eine Majestät kann sich mal irren.

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